Heilsame Geschichten für kranke oder einsame Menschen
Seit jeher wandten Menschen die uralte Kunst des Geschichtenerzählens an. Auch heute, tausende Jahre später, hat sie nichts von ihrer Wirksamkeit verloren.
Barbara Beinsteiner führt diese Tradition weiter.
Künstlerisch, heilsam, gesellschaftspolitisch. Geschichtenerzählen hat viele Dimensionen.
Wie alles begann
Es war einmal…
im Frühling 2019 ein Anruf, aus dem auf verschlungenen Wegen ein ganz besonderes Projekt wurde: Eine betroffene Mutter fragte mich, ob ich auf der Kinderonkologie Märchen erzählen würde? Damit verbunden waren der Wunsch und die Hoffnung auf ein gemeinsames Erlebnis der erkrankten Kinder mit ihren Eltern, das in die Märchenwelt führt, in der Heilung immer möglich ist und in der Wunder gewissermaßen den Alltag prägen.
Was für eine außergewöhnliche Frage und welche Ehre für mich, das gefragt zu werden!
So versuchte ich zunächst mit der Onkologie und schließlich mit der gesamten Kinderklinik, einen Plan und ein Konzept zu entwerfen. Alle fanden die Idee schön.
Aber leider wurde bald klar, dass sie sich nicht verwirklichen lässt. Eine zu große Altersspanne der Patient*innen und ein sehr individueller Ablauf prägen den Klinikalltag und das macht die Planung einer solchen Veranstaltung unmöglich.
Somit schloss ich das Projekt für mich wieder ab, bevor es gestartet hatte und dann geschah – wie im Märchen – ein Wunder?
Pflegedienstleiterin Adelheid Bauernfeind rief mich an, um mir mitzuteilen, dass nun doch noch eine Idee entstanden sei: Ob ich mir vorstellen könne, bei palliativ erkrankten Kindern im Einzelsetting direkt an deren Krankenbett Märchen zu erzählen?
Und das tat ich fortan mit großer Freude und erstaunlicher Resonanz. Manche Kinder durfte ich öfter besuchen, weil sie immer wieder danach fragten und anderen wurden ungeliebte Pflegehandlungen leichter erträglich, wenn sie dabei die Harfenmusik hörten. Auch für die Eltern, die oft lange Zeit am Krankenbett ihres Kindes verbrachten, waren meine Besuche eine willkommene Pause, die sie entweder nützten, um selbst zu lauschen oder auch, um die Klinik für eine kleine Weile zu verlassen.
Auf „Abruf“ kam ich mit meinem Nähkästchen voller Märchen und mit meiner kleinen Harfe in die Klinik und erzählte den betreffenden Kindern Märchen, die ihrer Altersgruppe und ihren Interessen entsprachen. Zur Beruhigung, zum Trost, zur Aufmunterung oder einfach zur Unterhaltung. Es ist ja so: Die bloßen Worte „Es war einmal…“ lassen einen Raum in einem anderen Licht erscheinen und bringen uns mit der Leichtigkeit der Phantasie in unsere innere, heile Welt. Die ist voll von Abenteuern, Gefahren und Wundern und immer lässt sie ein gutes Ende vorhersehen, das uns hilft, durch unsere Angst und unsere Schmerzen hindurch zu gehen. Oft geht es im Märchen auch lustig zu und dann staunen und lachen wir gemeinsam.
Da es sich um palliativ erkrankte Kinder handelte, standen natürlich auch die Themen Tod und Sterben im Raum. Frei von Angst nähern sich die Märchen auf sehr tröstliche Weise diesen schweren Grenzerfahrungsthemen an und öffnen damit Räume und Möglichkeiten, über das, was niemand will, zu sprechen und Trost zu finden.
Leider, leider kam dann bald die Pandemie dazwischen und so machte das Projekt, das inzwischen den Titel „Märchenglück am Krankenbett“ trägt, vorübergehend Pause. Dies aber nur scheinbar. Denn hinter den Kulissen nützte ich die Zeit der aneinandergereihten Lockdowns für die Arbeit, die diesem Projekt helfen soll, sich weiter zu entwickeln: In stundenlanger, geduldiger Kleinstarbeit gestaltete ich ein textiles Bild, das eine vielfältige, phantasievolle und vor allem heile Märchenwelt darstellt. Mit Stickfäden in eine genähte Landschaft eingearbeitet kann man eine kunterbunte Blumenwiese betrachten, einen geflügelten Drachen, Hexen, die im Kessel einen geheimen Trank brauen oder auch durch die Lüfte fliegen, einen tief verschneiten Winterwald, eine Gänsemagd mit ihrer schnatternden Schar, natürlich ein Schloss mit dem König auf seinem edelsten Pferd, eine Meerjungfrau und noch so vieles mehr!
Nun kann ich als Märchenerzählerin keine wissenschaftlichen Ergebnisse präsentieren (obwohl ich an einer Begleitstudie sehr interessiert wäre), aber die Erfahrung zeigt, dass Menschen, die abends Märchen hören, z.B. besser schlafen und weniger Beruhigungsmittel brauchen. Allerdings wäre das erst empirisch zu belegen. In der Schweiz und in Deutschland machte man bereits sehr gute Erfahrungen mit Märchenerzähler*innen am Krankenbett. So konnte z. B. nachgewiesen werden, dass sich Frühchen im Brutkasten durch mündlich erzählte Geschichten messbar beruhigten und das Pflegepersonal eine deutliche Entlastung erfuhr. (s. „Im Auge des Sturms“, Schlüsselgeschichten von Erzähler ohne Grenzen, Der Erzählverlag 2019).
Einen Ausblick wage ich aber dennoch: Bei den palliativ erkrankten Kindern waren die individuell und persönlich erzählten Märchen sehr willkommen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass das bei anders erkrankten Kindern oder auch bei Erwachsenen nicht der Fall sein sollte.
Wenn ich in die Zukunft träumen darf, dann wird es an der Klinik Innsbruck künftig ein Zusatzangebot für alle stationären Patient*innen geben: Die Märchenerzählerin kommt ans Krankenbett, erzählt Märchen aus ihrem Nähkästchen und spielt auf ihrer Harfe – zur Beruhigung, zum Trost, zur Aufmunterung oder einfach zur Unterhaltung. Für alle, die sich das wünschen, Alter egal. Denn die Reise in die eigene innere heile Welt macht glücklich und wer glücklich ist, wird doch sicher schneller gesund, oder etwa nicht?